Ein aktuelles Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz (11 Ca 1867/24) vom 10.04.2025 (derzeit (17.04.2025) noch nicht rechtskräftig) beleuchtet wichtige Fragen rund um die Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer während der sogenannten Wartezeit – also den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses. Wann ist eine solche Kündigung wirksam, und welche Schutzmechanismen greifen (nicht)?
Der Fall:
Eine Arbeitnehmerin mit einer anerkannten Schwerbehinderung wurde als Sachbearbeiterin eingestellt. Im Arbeitsvertrag war eine Probezeit von drei Monaten vereinbart. Nach Ablauf der Probezeit, aber noch innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses (der Wartezeit nach § 1 Kündigungsschutzgesetz – KSchG), erhielt sie die ordentliche Kündigung durch den Geschäftsführer.
Die Arbeitnehmerin wehrte sich gegen die Kündigung und machte mehrere Gründe für deren Unwirksamkeit geltend:
- Formmangel: Die Unterschrift des Geschäftsführers sei unleserlich und stelle keine gültige Unterschrift im Sinne des § 623 BGB dar, sondern nur eine Paraphe.
- Fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung: Diese sei nicht angehört worden.
- Diskriminierung wegen Schwerbehinderung: Die Kündigung sei diskriminierend, unter anderem weil kein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) bzw. Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt wurde. Sie führte zudem Mängel bei der Einarbeitung, unangemessenes Verhalten der Vorgesetzten und eine nicht behinderungsgerechte Arbeitsplatzausstattung an.
- Sitten- und Treuwidrigkeit: Die Kündigung verstoße gegen die Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bzw. sei sittenwidrig (§ 138 BGB).
Der Arbeitgeber hielt die Kündigung für wirksam. Die Unterschrift sei gültig, eine Schwerbehindertenvertretung existiere im Betrieb nicht und müsse auch nicht gebildet werden. Die Kündigungsentscheidung sei unabhängig von der Schwerbehinderung gefallen. Man habe Einarbeitungsunterstützung geleistet und Angebote zur Arbeitserleichterung gemacht, die teils abgelehnt worden seien. Ein Präventionsverfahren sei nicht erforderlich gewesen bzw. seien dessen Ziele durch andere Maßnahmen erreicht worden.
Die Entscheidung:
Das Gericht wies die Klage der Arbeitnehmerin ab und bestätigte die Wirksamkeit der Kündigung. Die wesentlichen Argumente des Gerichts:
- Kein allgemeiner Kündigungsschutz (§ 1 KSchG): Der allgemeine Kündigungsschutz greift erst nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit. Da die Kündigung innerhalb dieser Wartezeit erfolgte, bedurfte sie keiner sozialen Rechtfertigung.
- Kein besonderer Kündigungsschutz (§ 168 SGB IX): Auch der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte (Erfordernis der Zustimmung des Integrationsamtes) gilt erst nach sechs Monaten.
- Keine Pflicht zur Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung: Da im Betrieb keine Schwerbehindertenvertretung bestand und auch nicht gebildet werden musste (weniger als fünf schwerbehinderte Beschäftigte), konnte deren fehlende Beteiligung die Kündigung nicht unwirksam machen.
- Schriftform (§ 623 BGB) sei gewahrt: Das Gericht prüfte die Unterschrift unter der Kündigung anhand der Kriterien des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Auch wenn der Schriftzug „flüchtig“ und „abgeschliffen“ sei, lasse er individuelle Merkmale erkennen und zeige die Absicht einer vollen Namensunterschrift. Es handele sich nicht nur um eine Paraphe.
- Keine Sitten- oder Treuwidrigkeit (§§ 138, 242 BGB): Die von der Klägerin geschilderten Probleme (Einarbeitung, Umgangston) erreichen nicht die hohe Schwelle der Sitten- oder Treuwidrigkeit. Solche Konflikte seien in der Erprobungsphase nicht unüblich und sollen gerade nicht den vollen gerichtlichen Schutz des KSchG genießen.
- Keine Diskriminierung (AGG): Das Gericht prüfte eingehend, ob die Kündigung gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verstößt. Zwar kann eine diskriminierende Kündigung auch in der Wartezeit unwirksam sein (§ 134 BGB i.V.m. § 7 AGG). Die Klägerin muss jedoch Indizien darlegen, die eine Benachteiligung wegen ihrer Schwerbehinderung vermuten lassen (§ 22 AGG).
Solche Indizien sah das Gericht nicht als ausreichend dargelegt an. Die Vorwürfe bezüglich der Arbeitsplatzausstattung waren nicht ausreichend substantiiert und wurden vom Arbeitgeber nachvollziehbar erwidert.
Besonders relevant: Das Gericht befasste sich intensiv mit der Frage, ob das vom Arbeitgeber nicht durchgeführte Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX ein solches Indiz für eine Diskriminierung darstellt. Die Antwort des ArbG Chemnitz war klar: Nein.
Es argumentierte, dass dieses Verfahren keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung sei. Seine rechtliche Bedeutung (insbesondere eine mögliche Verschiebung der Darlegungs- und Beweislast) entfalte es hauptsächlich im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes, also nach Ablauf der Wartezeit. Es würde dem Sinn der Wartezeit als Erprobungsphase widersprechen, wenn das Fehlen dieses Verfahrens hier bereits eine Diskriminierung indizieren würde. Das Gericht stützte sich dabei ausdrücklich auf eine aktuelle Entscheidung des LAG Thüringen (Urteil vom 04.06.2024, Az. 1 Sa 201/23) und die Grundsätze der BAG-Rechtsprechung.
Wichtig zu wissen: An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Bewertung des unterlassenen Präventionsverfahrens in der Wartezeit nicht immer einheitlich gesehen wurde. Einzelne Landesarbeitsgerichte (z.B. in früheren Entscheidungen das LAG Köln) haben durchaus vertreten, dass das vollständige Ignorieren der Pflicht aus § 167 Abs. 1 SGB IX – also das Unterlassen jeglicher präventiver Bemühungen bei Auftreten von Schwierigkeiten, die auf die Behinderung zurückzuführen sein könnten – durchaus ein Indiz im Sinne des § 22 AGG für eine Benachteiligung wegen der Behinderung darstellen kann. Die Argumentation dahinter: Wenn der Arbeitgeber nicht einmal versucht, präventiv tätig zu werden, könnte dies darauf hindeuten, dass er sich nicht ernsthaft mit einer behinderungsgerechten Beschäftigung auseinandersetzen wollte und die Kündigung doch einen Bezug zur Behinderung hat. Derzeit ist diesbezüglich ein Revisionsverfahren am Bundesarbeitsgericht anhängig unter 2 AZR 271/24.
Das Arbeitsgericht Chemnitz hat sich dieser abweichenden Auffassung jedoch – unter Verweis auf das genannte LAG Thüringen Urteil – ausdrücklich nicht angeschlossen. Es folgt der Linie, dass das Präventionsverfahren keine Kündigungsvoraussetzung ist und sein Fehlen in der Wartezeit nicht per se eine Diskriminierung vermuten lässt.
Fazit:
Das Urteil bestätigt die grundsätzliche Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses, auch gegenüber schwerbehinderten Arbeitnehmern. Der besondere und allgemeine Kündigungsschutz greifen in dieser Phase noch nicht.
Dennoch ist die Kündigungsfreiheit nicht grenzenlos:
- Die Schriftform muss zwingend eingehalten werden, wobei eine leserliche Unterschrift zwar nicht erforderlich, aber eine erkennbare Namensunterschrift (keine bloße Paraphe) notwendig ist.
- Die Kündigung darf nicht diskriminierend (z.B. wegen der Behinderung) oder sitten-/treuwidrig sein, auch wenn die Hürden hierfür in der Wartezeit höher liegen.
- Die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 SGB IX führt während der Wartezeit – nach dieser Entscheidung – nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung und begründet auch keine Vermutung für eine Diskriminierung. Arbeitgeber sind dennoch gut beraten, frühzeitig auf gesundheitliche Probleme oder behinderungsbedingte Schwierigkeiten einzugehen und Unterstützung anzubieten, schon allein um Diskriminierungsvorwürfen vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis positiv zu gestalten.
Arbeitgeber sollten sich bewusst sein, dass trotz der erleichterten Kündigungsmöglichkeit in der Wartezeit die Grundprinzipien des Arbeitsrechts, insbesondere das Diskriminierungsverbot, weiterhin gelten.
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